Aphorismen zur Lebensweisheit
Parerga und Paralipomena
Arthur Schopenhauer (1851)
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Dr. Christopher B. Germann (Ph.D., M.Sc., B.Sc. / Marie Curie Alumnus)
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2019
21. Die meisten Menschen sind so subjektiv, daß im Grunde nichts Interesse für sie hat,
als ganz allein sie selbst. Daher kommt es, daß sie bei allem, was gesagt wird, sogleich
an sich denken und jede zufällige, noch so entfernte Beziehung auf irgend etwas ihnen
Persönliches ihre ganze Aufmerksamkeit an sich reißt und in Besitz nimmt; so daß sie
für den objektiven Gegenstand der Rede keine Fassungkraft übrig behalten; wie auch,
daß keine Gründe etwas bei ihnen gelten, sobald ihr Interesse oder ihre Eitelkeit den-
selben entgegensteht. Daher sind sie so leicht zertreut, so leicht verletzt, beleidigt oder
gekränkt, daß man, von was es auch sei, objektiv mit ihnen redend, nicht genug sich in
acht nehmen kann vor irgend welchen möglichen, vielleicht nachteiligen Beziehungen
des Gesagten zu dem werten und zarten Selbst, das man da vor sich hat: denn ganz
allein an diesem ist ihnen gelegen, sonst an nichts, und während sie für das Wahre und
Treffende, oder Schöne, Feine, Witzige der frenden Rede ohne Sinn und Gefühl sind,
haben sie die zarteste Empfindlichkeit gegen jedes, was auch nur auf die entfernteste
und indirekteste Weise ihre kleinliche Eitelkeit verletzen, oder irgendwie nachteilig auf
ihr höchst preziöses Selbst reflektieren könnte, so daß sie in ihrer Verletzbarkeit den
kleinen Hunden gleich, denen man, ohne sich dessen zu versehen, so leicht auf die Pfo-
ten tritt und nun das Gequieke anzuhören hat; oder auch einem mit Wunden und Beu-
len bedeckten Kranken verglichen werden können, bei dem man auf das behutsamste
jede mögliche Berührung zu vermeiden hat. Bei manchen geht nun aber die Sache so
weit, daß sie Geist und Verstand, im Gespräch mit ihnen, an den Tag gelegt, oder doch
nicht genugsam versteckt, geradezu als eine Beleidigung empfinden, wenngleich sie
solche vorderhand noch verhehlen; wonach dann aber nachher der Unerfahrene ver-
geblich darüber nachsinnt und grübelt, wodurch in aller Welt er sich ihren Groll und
Haß zugezogen haben könne. - Ebenso leicht sind sie aber auch geschmeichelt und ge-
wonnen. Daher ist ihr Urteil meistens bestochen und bloß ein Ausspruch zugunsten
ihrer Partei, oder Klasse; nicht aber ein objektives und gerechtes. Dies alles beruht da-
rauf, daß in ihnen der Wille bei weitem die Erkenntnis überwiegt und ihr geringer In-
tellekt ganz im Dienste des Willens steht, von welchem er auch nicht auf einen Augen-
blick sich losmachen kann.
Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen, infolge
welcher sie alles auf sich bezieht und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf
sich zurückgehen, liefert die Astrologie, welche den Gang der großen Weltkörper auf
das amselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit
den irdischen Händeln und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon in den ältes-
ten Zeiten geschehen. (S. z. B. Stob. Eclog. L. I, c. 22, 9, pag. 478.)
22. Bei jeder Verkehrtheit, die in Publiko, oder in der Gesellschaft, gesagt, oder in der Li-
teratur geschrieben und wohlaufgenommen, wenigstens nicht widerlegt wird, soll man
nicht verzweifeln und meinen, daß es nun dabei sein Bewenden haben werde; sondern
wissen und sich getrösten, daß die Sache hinterher und allmählich ruminiert, beleuch-
tet, bedacht, erwogen, besprochen und meistens zuletzt richtig beurteilt wird; so daß,
nach einer, der Schwierigkeit derselben angemessenen Frist, endlich fast alle begreifen,
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was der klare Kopf sogleich sah. Unterdessen freilich muß man sich gedulden. Denn
ein Mann von richtiger Einsicht unter den Betörten gleicht dem, dessen Uhr richtig
geht, in einer Stadt, deren Turmuhren alle falsch gestellt sind. Er allein weiß die wahre
Zeit: aber was hilft es ihm? alle Welt richtet sich nach den falsch zeigenden Stadtuhren;
sogar auch die, welche wissen, daß seine Uhr allein die wahre Zeit angibt.
23. Die Menschen gleichen darin den Kindern, daß sie unartig werden, wenn man sie ver-
zieht; daher man gegen keinen zu nachgiebig und liebreich sein darf. Wie man, in der
Regel keinen Freund dadurch verlieren wird, daß man ihm ein Darlehn abschlägt, aber
sehr leicht dadurch, daß man es ihm gibt; ebenso, nicht leicht einen durch stolzes und
etwas vernachlässigendes Betragen; aber oft infolge zu vieler Freundlichkeit und Zu-
vorkommens, als welche ihn arrogant und unerträglich machen, wodurch der Bruch
herbeigeführt wird. Besonders aber den Gedanken, daß man ihrer benötigt sei, können
die Menschen schlechterdings nicht vertragen; Uebermut und Anmaßung sind sein un-
zertrennliches Gefolge. Bei einigen entsteht er, in gewissem Grade, schon dadurch, daß
man sich mit ihnen abgibt, etwa oft, oder auf eine vertrauliche Weise mit ihnen spricht:
alsbald werden sie meinen, man müsse sich von ihnen auch etwas gefallen lassen, und
werden versuchen, die Schranken der Höflichkeit zu erweitern. Daher taugen so wenige
zum irgend vertrauteren Umgang, und soll man sich besonders hüten, sich nicht mit
niedrigen Naturen gemein zu machen. Faßt nun aber gar einer den Gedanken, er sei
mir viel nötiger, als ich ihm; da ist es ihm sogleich, als hätte ich ihm etwas gestohlen:
er wird suchen, sich zu rächen und es wiederzuerlangen. Überlegenheit im Umgang
erwächst allein daraus, daß man der andern in keiner Art und Weise bedarf, und dies
sehn läßt. Dieserwegen ist es ratsam, jedem, es sei Mann oder Weib, von Zeit zu Zeit
fühlbar zu machen, daß man seiner sehr wohl entraten könne: das befestigt die Freund-
schaft; ja, bei den meisten Leuten kann es nicht schaden, wenn man ein Gran Gering-
schätzung gegen sie, dann und wann, mit einfließen läßt: sie legen desto mehr Wert auf
unsere Freundschaft: Chi non istima vien stimato (wer nicht achtet, wird geachtet),
sagt ein feines italienisches Sprichwort. Ist aber einer uns wirklich sehr viel wert; so
müssen wir dies vor ihm verhehlen, als wäre es ein Verbrechen. Das ist nun eben nicht
erfreulich; dafür aber wahr. Kaum daß Hinde die große Freundlichkeit vertragen; ge-
schweige Menschen.
24. Daß Leute edlerer Art und höherer Begabung so oft, zumal in der Jugend, auffallenden
Mangel an Menschenkenntnis und Weltklugheit verraten, daher leicht betrogen oder
sonst irregeführt werden, während die niedrigen naturen sich viel schneller und besser
in die Welt zu finden wissen, liegt daran, daß man, beim Mangel der Erfahrung, a priori
zu urteilen hat, und daß überhaupt keine Erfahrung es dem a priori gleichtut. Dies a
priori mlich gibt denen vom gewöhnlichen Schlage das eigene Selbst an die Hand,
den Edelen und vorzüglichen aber nicht: denn eben als solche sind sie von den andern
weit verschieden. Indem sie daher deren Denken und Tun nach dem ihreigen berech-
nen, trifft die Rechnung nicht zu.
Wenn nun aber auch ein solcher a posteriori, also aus frender Belehrung und eigener
Erfahrung, endlich gelernt hat, was von den Menschen, im ganzen genommen, zu er-
warten steht, daß nämlich etwas fünf Sechstel derselben, in moralischer, oder intellek-
tueller Hinsicht, so beschaffen sind, daß, wer nicht durch die Umstände in Verbindung
mit ihnen gesetzt ist, besser tut, sie vorweg zu meiden und, soweit es angeht, außer
allem Kontakt mit ihnen zu bleiben; - so wird er dennoch von ihrer Kleinlichkeit und
Erbärmlichkeit kaum jemals einen ausreichenden Begriff erlangen, sondern immer-
fort, solange er lebt, denselben noch zu erweitern und zu vervollständigen haben, un-
terdessen aber sich gar oft zu seinem Schden verrechtnen. Und dann wieder, nachdem
er die erhaltene Belehrung wirklich beherzigt hat, wird es ihm dennoch zuzeiten begeg-
nen, daß er, in eine Gesellschaft ihm noch unbekannter Menschen geratend, sich zu
wundern hat, wie sie doch sämtlich, ihren Reden und Mienen nach, ganz vernünftig,
redlich, aufrichtig, ehrenfest und tugendsam, dabei auch wohl noch gescheit und
geistreich erscheinen. Dies sollte ihn jedoch nicht irren: denn es kommt bloß daher,
daß die Natur es nicht macht, wie die schlechten Poeten, welche, wann sie Schurken
oder Narren darstellen, so plump und absichtsvoll dabei zu Werke gehn, daß man
gleichsam hinter jeder Person den Dichter stehn sieht, der ihre Gesinnung und Rede
fortwährend deavouiert und mit warnender Stimme ruft: "Dies ist ein Schurke, dies ist
ein Narr; gebt nichts auf das, was er sagt." Die Natur hingegen macht es wie Shake-
speare und Goethe, in deren Werken jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, wäh-
rend sie dasteht und edet, recht behält; weil sie so objektiv aufgefaßt ist, daß wir in ihr
Interesse gezogen und zur Teilnahme an ihr gezwungen werden: denn sie ist, eben wie
die Werke der Natur, aus einem innern Prinzip entwickelt, vermöge dessen ihr Sagen
und Tun als natürlich, mithin als notwendig auftritt. - Also, wer erwartet, daß in der
Welt die Teufel mit Hörnern und die Narren mit Schellen einhergehn, wird stets ihre
Beute, oder ihr Spiel sein. Hiezu kommt aber noch, daß im Umgange die Leute ess ma-
chen, wie der Mond und die Bucklichten, nämlich stets nur eine Seite zeigen, und sogar
jeder ein angeborenes Talent hat, auf mimischem Wege seine Physiognomie zu einer
Maske umzuarbeiten, welche genau darstellt, was er eigentlich sein sollte, und die,
weil sie ausschließlich auf seine Individualität berechnet ist, ihm so gnau anliegt und
anpaßt, daß die Wirkung überaus täuschend ausfällt. Er legt sie an, so oft es darauf
ankommt, sich einzuschmeicheln. Man soll auf dieselbe so viel geben, als wäre sie aus
Wachstuch, eingedenk des vortrefflichen italienischen Sprichwortes: Non è si tristo
cane, che non meni la coda (so böse ist kein Hund, daß er nicht mit dem Schwanze
wedelte).
Jedenfalls soll man sich sorgfältig hüten, von irgend einem Menschen neuer Bekannt-
schaft eine sehr günstige Meinung zu fassen; sonst wird man, in den allermeisten Fäl-
len, zu eigener Beschämung, oder gar Schaden, enttäuscht werden. - Hiebei verdient
auch dies berücksichtigt zu werden: Gerade in Kleinigkeiten, als bei welchen der
Mensch sich nicht zusammennimmt, zeigt er seinen Charakter, und da kann man oft,
an gerinfügigen Handlungen, an bloßen Manieren, den grenzenlosen, nicht die mideste
Rücksicht auf andere kennenden Egoismus bequem beobachten, der sich nachher im
großen nicht verleugnet, wiewohl verlarvt. Und man versäume solche Gelegenheit
nicht. Wenn einer in den kleinen täglichen Vorgängen und Verhältnissen des Lebens,
in den Dingen, von welchen das de minimis lex non curat gilt, rücksichtslos verfährt,
bloß seinen Vorteil oder seine Bequemlichkeit, zum Nachteil anderer, sucht; wenn er
sich aneignet, was für alle da ist usw.; da sei man überzeugt, daß in seinem Herzen
keine Gerechtigkeit wohnt, sondern er auch im großen ein Schuft sein wird, sobald das
Gesetzt und die Gewalt ihm nicht die Hände binden, und traue ihm nicht über die
Schwelle. Ja, wer ohne Scheu die Gesetze seines Klubs bricht, wird auch des Staates
brechen, sobald er es ohne Gefahr kann *).
Anmerkung *) Wenn in den Menschen, wie sie meistenteils sind, das
Gute das Schlechte überwöge; so wäre es geratener, sich auf ihre Ge-
rechtigkeit, Billigkeit, Dankbarkeit, Treue, Liebe oder Mitleid zu ver-
lassen, als auf ihre Furcht: weil es aber mit ihnen umgekehrt steht; so
ist das Umgekehrte geratener.
Hat nun einer, mit dem wir in Verbindung, oder Umgang stehn, uns etwas Unangeneh-
mes, oder Aergerliches erzeigt; so haben wir uns nur zu fragen, ob er uns so viel wert
sei, daß wir das nämliche, auch noch etwas verstärkt, uns nochmals und öfter von ihm
wollen gefallen lassen; - oder nicht. (Vergeben und vergessen heißt, gemachte kostbare
Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen.) Im bejahenden Fall wird nicht viel darüber
zu sagen sein, weil das Reden wenig hilft: wir müssen also die Sache, mit oder ohne
Ermahnung, hingehn lassen, sollen jedoch wissen, daß wir hiedurch sie uns nochmals
ausgebeten haben. Im verneinenden Falle hingegen haben wir sogleich und auf immer
mit dem werten Freunde zu brechen, oder, wenn es ein Diener ist, in abzuschaffen.
Denn unausbleiblich wird er, vorkommendenfalls, ganz dasselbe, oder das völlig ana-
loge, wieder tun, auch wenn er uns jetzt das Gegenteil hoch und aufrichtig beteuert.
Alles, alles kann einer vergessen, nur nicht sich selbst, sein eigenes Wesen. Denn der
Charakter ist schlechthin inkorrigibel; weil alle Handlungen des Menschen aus einem
innern Prinzip fließen, vermöge dessen er, unter gleichen Umständen, stets das gleiche
tun muß und nicht anders kann. Man lese meine Preisschrift über die sogenannte Frei-
heit des Willens und befreie sich vom Wahn. Daher auch ist, sich mit einem Freunde,
mit dem man gebrochen hatte, wieder auszusöhnen, ein Schwäche, die man abbüßt,
wann derselbe, bei erster Gelegenheit, gerade und genau dasselbe wieder tut, was den
Bruch herbeigeführt hatte; ja, mit noch mehr Dreistigkeit, im stillen Bewußtsein seiner
Unentbehrlichkeit. Das gleiche gilt von abgeschafften Dienern, die man wiedernimmt.
Ebensowenig, und aus demselben Grunde, dürfen wir erwarten, daß einer, unter ver-
änderten Umständen, das gleiche, wie vorher, tun werde. Vielmehr ändern die Men-
schen Gesinnung und Betragen ebenso schnell, wie ihr Interesse sich ändert; ja, ihre
Absichtlichkeit zieht ihre Wechsel auf so kurze Sicht, daß man selbst noch kurzsichtiger
sein müßte, um sie nicht protestieren zu lassen.
Gesetzt demnach, wir wollten etwa wissen, wie einer, in einer Lage, in die wir ihn zu
versetzen gedenken, handeln wird; so dürfen wir hierüber nicht auf seine Versprechun-
gen und Beteuerungen bauen. Denn, gesetzt auch, er spräche aufrichtig; so spricht er
von seiner Sache, die er nicht kennt. Wir müssen also allein aus der Erwägung der Um-
stände, in die er zu treten hat, und des Konfliktes derselben mit seinem Charakter, sein
Handeln berechnen.
Um überhaupt von der wahren und sehr traurigen Beschaffenheit der menschen, wie
sie meistens sind, das so nötige, deutliche und gründliche Verständnis zu erlangen, ist
es überaus lehrreich, das Treiben und Benehmen derselben in der Literatur als Kom-
mentar ihres Treibens und Benehmens im praktischen Leben zu gebrauchen, und vice
versa. Dies ist sehr dienlich, um weder an sich, noch an ihnen irre zu werden. Dabei
aber darf kein Zug von besonderer Niederträchtigkeit oder Dummheit, der uns im Le-
ben oder in der Literatur aufstößt, uns je ein Stoff zum Verdruß und Aerger, sondern
bloß zur Erkenntnis werden, indem wir in ihm einen neuen Beitrag zur Charakteristik
des Menschengeschlechts sehn und demnach ihn uns merken. Alsdann werden wir ihn
ungefähr so betrachten, wie der Mineralog ein ihm aufgestoßenes, sehr charakteristi-
sches Spezimen eines Minerals. Ausnahmen gibt es, ja, unbegreiflich große, und die
Unterschiede der Individualitäten sind enorm: aber, im ganze genommen, liegt, wie
längst gesagt ist, die Welt im argen: die Wilden fressen einander und die Zahmen be-
trügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. Was ind denn die Staaten, mit
aller ihrer künstlichen, nach außen und nach innen gerichteten Maschinerie und ihren
Gewaltmitteln anderes, als die Vorkehrungen, der grenzenlosen Ungerechtigkeit der
Menschen Schranken zu setzen? Sehn wir nicht, in der ganzen Geschichte, jeden König,
sobald er fest steht, und sein Land einiger Prosperität genießt, diese benutzen, um mit
seinem Heer, wie mit einer Räuberschar, über die Nachbarstaaten herzufallen? sind
nicht fast alle Kriege im Grunde Raubzüge? Im frühen Altertum, wie auch zum Teil im
Mittelalter, wurden die Besiegten Sklaven der Sieger, d. h. im Grunde, sie mußten für
diese arbeiten: dasselbe müssen aber die, welche Kriegskontributionen zahlen: sie ge-
ben nämlich den Ertrag früherer Arbeit hin. Dans toutes les guerres il ne s'agit que de
voler, sgt Voltaire, und die Deutschen sollen es sich gesagt sein lassen.
25. Kein Charakter ist so, daß er sich selbst überlassen bleiben und sich ganz und gar gehn
lassen dürfte; sondern jeder bedarf der Lenkung durch Begriffe und Maximen. Will
man nun aber es hierin weit bringen, nämlich bis zu einem nicht aus unsrer angebore-
nen Natur, sondern bloß aus vernünftiger Ueberlegung hervorgegangenen, ganz ei-
gentlich erworbenen und künstlichen Charakter; so wird man gar bald das
Naturam expelles furca, tamen usque recurret
bestätigt finden. Man kann nämlich eine Regel für das Betragen gegen andere sehr wohl
einsehn, ja, sie selbst auffinden und treffend ausdrücken, und wird dennoch, im wirk-
lichen Leben, gleich darauf, gegen sie verstoßen. Jecoch soll man nicht sich dadurch
entmutigen lassen und denken, es sei unmöglich, im Weltleben sein Benehmen nach
abstrakten Regeln und Maximen zu leiten, und daher am besten, sich eben nur gehn zu
lassen. Sondern es ist damit, wie mit allen theoretischen Vorschriften und
Anweisungen für das Praktische: die Regel verstehn ist das erste, sie ausüben lernen ist
das zweite. Jenes wird durch Vernunft auf einmal, dieses durch Uebung allmählich ge-
wonnen. Man zeigt dem Schüler Griffe auf dem Instrument, die Paraden und Stöße auf
dem Rapier: er fehlt sogleich, trotz dem besten Vorsatze, dagegen, und meint nun, sie
in der Schnelle des Notenlesens und der Hitze des Kampfes zu beobachten, sei schier
unmöglich. Dennoch lernt er es allmählich, durch Uebung, unter Straucheln, Fallen
und Aufstehn. Ebenso geht es mit den Regeln der Grammatik im lateinischen Schrei-
ben und Sprechen. Nicht anders also wird der Tölpel zum Hofmann, der Hitzkopf zum
feinen Weltmann, der Offene verschlossen, der Edle ironisch. Jedoch wird eine solche,
durch lange Gewohnheit erlangte Selbstdressur stets als ein von außen gekommener
Zwang wirken, welchem zu widerstreben die Natur nie ganz aufhört und bisweisen un-
erwartet ihn durchbricht. Denn alles handeln nach abstrakten Maximen verhält sich
zum Handeln aus ursprünglicher, angeborener Neigung, wie ein menschliches Kunst-
werk, etwa eine Uhr, wo Form und Bewegung dem ihnen fremden Stoffe aufgezwungen
sind, zum lebenden Organismus, bei welchem Form und Stoff voneinander durchdrun-
gen und eins sind. An diesem Verhältnis des erworbenen zum angeborenen Charakter
bestätigt sich demnach ein Ausspruch des Kaiser Napoleon: Tout ce qui n'est pas na-
turel est imparfait; welcher überhaupt eine Regel ist, die von allem und jedem, sei es
physisch oder moralisch, gilt, und von der die einzige mir einfallende Ausnahme das,
den Mineralogen bekannte, natürliche Aventurino ist, welches dem künstlichen nicht
gleichkommt.
Darum sei hier auch vor aller und jeder Affektation gewarnt. Sie erweckt allemal Ge-
ringschätzung: erstlich als Betrug, der als solcher feige ist, weil er auf Furcht beruht;
zweitens als Verdammungsurteil seiner selbst durch sich selbst, indem man scheinen
will, was man nicht ist, und was man folglich für besser hält, als was man ist. Das Af-
fektieren irgendeiner Eigenschaft, Das Sich-brüsten damit, ist ein Selbstgeständnis,
daß man sie nicht hat. Sei es Mut, oder Gelehrsamkeit, oder Geist, oder Witz, oder
Glück bei Weibern, oder Reichtum, oder vornehmer Stand, oder was sonst, womit einer
großtut; so kann man daraus schließen, daß es ihm gerade daran in etwas gebricht:
denn wer wirklich eine Eigenschaft vollkommen besitzt, dem fällt es nicht ein, sie her-
auszulegen und zu affektieren, sondern er ist darüber ganz beruhigt. Dies ist auch der
Sinn des spanischen Sprichworts: Herradura que chacolotea clavo le falta (dem klap-
pernden Hufeisen fehlt ein Nagel). Allerdings darf, wie anfangs gesagt, keiner sich un-
bedingt den Zügel schießen lassen und sich ganz zeigen, wie er ist; weil das viele
Schlechte und Bestialische unserer Natur der Verhüllung bedarf: aber dies rechtfertigt
bloß das Negative, die Dissimulation, nicht das Positive, die Simulation. - Auch soll
man wissen, daß das Affektieren erkannt wird, selbst ehe klar geworden, was eigentlich
einer affektiert. Und endlich hält es auf die Länge nicht Stich, sondern die Maske fällt
einmal ab. Nemo potest personam diu ferre fictam. Ficta cito in naturam suam recid-
unt. (Seneca, De Clementia L. I, c. 1.)