Plato's Höhlengleichnis
(Politeia, Buch VII)
Datum
Plymouth, 19.03.2019
Das H
¨
ohlengleichnis ist eines der bekanntesten Gleichnisse der antiken Philosophie. Es stammt
von dem griechischen Philosophen Platon (428/427–348/347 v. Chr.), der es am Anfang des sieb-
ten Buches seines Dialogs Polite
´
ıa von seinem Lehrer Sokrates erz
¨
ahlen l
¨
asst. Es verdeutlicht den
Sinn und die Notwendigkeit des philosophischen Bildungswegs, der als Befreiungsprozess dargestellt
wird. Das Ziel ist der Aufstieg aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt der verg
¨
anglichen Dinge, die
mit einer unterirdischen H
¨
ohle verglichen wird, in die rein geistige Welt des unwandelbaren Seins.
Den Aufstieg vollzieht zwar jeder f
¨
ur sich, aber da man dabei Hilfe ben
¨
otigt, ist es zugleich auch
ein kollektives Bem
¨
uhen. Zuvor hat Sokrates am Ende des sechsten Buches das Sonnengleichnis
und das Liniengleichnis vorgetragen. Als Abschluss und H
¨
ohepunkt der Gleichnisreihe z
¨
ahlt das
H
¨
ohlengleichnis zu den Grundtexten der platonischen Philosophie, da es zentrale Aussagen von
Platons Ontologie
1
und Erkenntnistheorie veranschaulicht.
1
Die Ontologie (im 16. Jahrhundert als griechisch ontologia gebildet aus altgriechisch ´on ,seiend‘ und ogos
,Lehre‘, also ,Lehre vom Seienden‘) ist eine Disziplin der (theoretischen) Philosophie, die sich mit der Einteilung
des Seienden und den Grundstrukturen der Wirklichkeit befasst. Dieser Gegenstandsbereich ist weitgehend deckungs-
gleich mit dem, was nach traditioneller Terminologie
allgemeine Metaphysik genannt wird. Dabei wird etwa eine
Systematik grundlegender Typen von Entit
¨
aten (konkrete und abstrakte Gegenst
¨
ande, Eigenschaften, Sachverhalte,
Ereignisse, Prozesse) und ihrer strukturellen Beziehungen diskutiert. Fragen, die spezielle Gegenstandsbereiche der
Philosophie betreffen, sind zum Beispiel
Was ist der Mensch?“,
Gibt es einen Gott? oder
Hat die Welt einen An-
fang?“, oder im Bereich der Naturwissenschaften
Was ist Materie?“,
Was ist die Raumzeit?“,
Gibt es emergente
Eigenschaften?“,
Was ist das Leben? oder
Was ist der Geist?
Document created by
Dr. Christopher B. Germann
(PhD, MSc, BSc / Marie Curie Fellow)

Platon, Das H
¨
ohlengleichnis (Politeia, Buch VII)
Stelle dir n
¨
amlich Menschen vor in einer h
¨
ohlenartigen Wohnung unter der Erde, die einen nach
dem Lichte zu ge
¨
offneten und l
¨
angs der ganzen H
¨
ohle hingehenden Eingang habe, Menschen, die
von Jugend auf an Schenkeln und H
¨
alsen in Fesseln eingeschmiedet sind, so daß sie dort unbeweglich
sitzenbleiben und nur vorw
¨
arts schauen, aber links und rechts die K
¨
opfe wegen der Fesselung nicht
umzudrehen verm
¨
ogen; das Licht f
¨
ur sie scheine von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter
ihnen; zwischen dem Feuer und den Gefesselten sei oben ein Querweg; l
¨
angs diesem denke dir eine
kleine Mauer erbaut, wie sie die Gaukler vor dem Publikum haben,
¨
uber die sie ihre Wunder zeigen.
Ich stelle mir das vor, sagte er.
So stelle dir nun weiter vor, l
¨
angs dieser Mauer tr
¨
ugen Leute allerhand
¨
uber diese hinausragende
Ger
¨
atschaften, auch Menschenstatuen und Bilder von anderen lebenden Wesen aus Holz, Stein und
allerlei sonstigem Stoffe, w
¨
ahrend, wie nat
¨
urlich, einige der Vor
¨
ubertragenden ihre Stimme h
¨
oren
lassen, andere schweigen.
Ein wunderliches Gleichnis, sagte er, und wunderliche Gefangene!
Leibhaftige Ebenbilder von uns! sprach ich. Haben wohl solche Gefangene von ihren eige- nen
Personen und von einander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die von dem Feuer
auf die ihrem Gesichte gegen
¨
uberstehende Wand fallen?
Unm
¨
oglich, sagte er, wenn sie gezwungen w
¨
aren, ihr ganzes Leben lang unbeweglich die K
¨
opfe zu
halten.
Ferner, ist es nicht mit den vor
¨
ubergetragenen Gegenst
¨
anden ebenso?
Allerdings.
Wenn sie nun mit einander reden k
¨
onnten, w
¨
urden sie nicht an der Gewohnheit festhalten, den
vor
¨
uberwandernden Schattenbildern, die sie sahen, dieselben Benennungen zu geben?
Notwendig.
Weiter: Wenn der Kerker auch einen Widerhall von der gegen
¨
uberstehenden Wand darb
¨
ote, sooft
jemand der Vor
¨
ubergehenden sich h
¨
oren ließe, - glaubst du wohl, sie w
¨
urden den Laut etwas anderem
zuschreiben als den vor
¨
uberschwebenden Schatten?
Nein, bei Zeus, sagte er, ich glaube es nicht.
¨
Uberhaupt also, fuhr ich fort, w
¨
urden solche nichts f
¨
ur wahr gelten lassen als die Schatten jener
Gebilde?
Ja, ganz notwendig, sagte er.
Betrachte nun, fuhr ich fort, wie es bei ihrer L
¨
osung von ihren Banden und bei der Heilung von
ihrem Irrwahne hergehen w
¨
urde, wenn solche ihnen wirklich zuteil w
¨
urde: Wenn einer entfesselt und
gen
¨
otigt w
¨
urde, pl
¨
otzlich aufzustehen, den Hals umzudrehen, herumzugehen, in das Licht zu sehen,
und wenn er bei allen diesen Handlungen Schmerzen empf
¨
ande und wegen des Glanzgeflimmers vor
seinen Augen nicht jene Dinge anschauen k
¨
onnte, deren Schat- ten er vorhin zu sehen pflegte: was
w
¨
urde er wohl dazu sagen, wenn ihm jemand erkl
¨
arte, daß er vorhin nur ein unwirkliches Schat-
tenspiel gesehen, daß er jetzt aber dem wahren Sein schon n
¨
aher sei und sich zu schon wirklicheren
Gegenst
¨
anden gewandt habe und daher nunmehr auch schon richtiger sehe? Und wenn man ihm
dann nun auf jeden der vor
¨
uberwandern- den wirklichen Gegenst
¨
ande zeigen und ihn durch Fragen
zur Antwort n
¨
otigen wollte, was er sei, - glaubst du nicht, daß er ganz in Verwirrung geraten und
die Meinung haben w
¨
urde, die vorhin geschauten Schattengestalten h
¨
atten mehr Realit
¨
at als die,
welche er jetzt gezeigt bekomme?
Ja, bei weitem, antwortete er.
Und nicht wahr, wenn man ihn zw
¨
ange, in das Licht selbst zu sehen, so w
¨
urde er Schmerzen an den
Augen haben, davonlaufen und sich wieder jenen Schattengegenst
¨
anden zuwen- den, die er ansehen
kann, und w
¨
urde dabei bleiben, diese w
¨
aren wirklich deutlicher als die, welche er gezeigt bekam?
So wird’s gehen, meinte er.
Wenn aber, fuhr ich fort, jemand ihn aus dieser H
¨
ohle mit Gewalt den rauhen und stellen Aufgang
z
¨
oge und ihn nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne herausgebracht h
¨
atte, - w
¨
urde er
da wohl nicht Schmerzen empfunden haben,
¨
uber dieses Hinaufziehen aufgebracht werden und,
nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung haben und also gar nichts von
den Dingen sehen k
¨
onnen, die jetzt als wirkliche ausgegeben werden?
Er w
¨
urde es freilich nicht k
¨
onnen, sagte er, wenn der
¨
Ubergang so pl
¨
otzlich gesch
¨
ahe.
Also einer allm
¨
ahlichen Gew
¨
ohnung daran, glaube ich, bedarf er, wenn er die Dinge
¨
uber der Erde
schauen soll. Da w
¨
urde er nun erstlich die Schatten am leichtesten anschauen k
¨
onnen und die
im Wasser von den Menschen und den
¨
ubrigen Wesen sich abspiegelnden Bilder, sodann erst die
wirklichen Gegenst
¨
ande selbst. Nach diesen zwei Stufen w
¨
urde er die Gegenst
¨
ande am Himmel und
den Himmel selbst erst des nachts, durch Gew
¨
ohnung seines Blickes an das Sternen- und Mondlicht,
leichter schauen als am Tage die Sonne und das Sonnen- licht.
Ohne Zweifel.
Und endlich auf der vierten Stufe, denke ich, vermag er nat
¨
urlich die Sonne, das heißt nicht ihre
Abspiegelung im Wasser oder in sonst einer außer ihr befindlichen K
¨
orperfl
¨
ache, sondern sie selbst
in ihrer Reinheit und in ihrer eigenen Region anzublicken sowie ihr eigentliches Wesen zu beschauen.
Ja, notwendig, sagte er.
Und nach solchen Vor
¨
ubungen w
¨
urde er
¨
uber sie die Einsicht gewinnen, daß sie die Urheberin
der Jahreszeiten und Jahreskreisl
¨
aufe ist, daß sie die Mutter von allen Dingen im Bereiche der
sichtbaren Welt und von allen jenen allm
¨
ahlichen Anschauungen gewissermaßen die Ursache ist.
Ja, entgegnete er, offenbar m er zu diesen Einsichten nach jenen Vor
¨
ubungen gelangen.
Wenn er nun an seinen ersten Aufenthaltsort zur
¨
uckdenkt und an die dortige Weisheit sei- ner
Mitgefangenen: wird er da wohl nicht sich wegen seiner Ver
¨
anderung gl
¨
ucklich preisen und jene
bedauern?
Ja, sicher.
Und wenn damals bei ihnen Ehres- und Beifallsbezeugungen wechselseitig bestanden sowie Be-
lohnungen f
¨
ur den sch
¨
arfsten Beobachter der vor
¨
uberwandernden Schatten, feiner f
¨
ur das beste
Ged
¨
achtnis daran, was vor, nach und mit ihnen zu kommen pflegte, und f
¨
ur die geschickteste Pro-
phezeiung des k
¨
unftig Kommenden: meinst du, daß er da danach Verlangen haben werde, daß er
die bei jenen H
¨
ohlenbewohnern in Ehre Stehenden und Machthabenden beneidet? Oder daß es ihm
geht, wie Homer sagt, und er viel lieber als Tagel
¨
ohner bei einem linderen d
¨
urftigen Manne das
Feld bestellen und eher alles in der Welt
¨
uber sich ergehen lassen will, als jene Meinungen und jenes
Leben haben?
Letzteres glaube ich, sagte er, daß er n
¨
amlich sich eher allen Leiden unterziehen als jenes Leben
f
¨
uhren wird.
Hierauf nun, fuhr ich fort, bedenke folgendes: Wenn ein solcher wieder hinunterk
¨
ame und sich wieder
auf seinen Platz setzte: w
¨
urde er da nicht die Augen voll Finsternis bekommen, wenn er pl
¨
otzlich
aus dem Sonnenlicht k
¨
ame?
Ja, ganz sicherlich, sagte er.
Aber wenn er nun, w
¨
ahrend sein Blick noch verdunkelt w
¨
are, wiederum im Erraten jener Schatten-
welt mit jenen ewig Gefangenen wetteifern sollte, und zwar ehe seine Augen wieder zurechtgekom-
men w
¨
aren - und die zu dieser Gew
¨
ohnung erforderliche Zeit d
¨
urfte nicht ganz klein sein -: w
¨
urde
er da nicht ein Gel
¨
achter veranlassen, und w
¨
urde es nicht von ihm heißen, weil er hinaufgegangen
w
¨
are, sei er mit verdorbenen Augen zur
¨
uckgekommen, und es sei nicht der M
¨
uhe wert, nur den
Versuch zu machen, hinaufzugehen? Und wenn er sich gar erst unterst
¨
ande, sie zu entfesseln und
hinaufzuf
¨
uhren, - w
¨
urden sie ihn nicht ermorden, wenn sie ihn in die H
¨
ande bekommen und ermor-
den k
¨
onnten?

Weiterf
¨
uhrende Literatur
Rafael Ferber: Platos Idee des Guten. 2. Auflage. Academia Verlag, Sankt Augustin 1989, ISBN
3-88345-559-8, S. 115–148.
Thomas Alexander Szlez´ak: Das H
¨
ohlengleichnis (Buch VII 514a–521b und 539d–541b). In: Otfried
H
¨
offe (Hrsg.): Platon: Politeia. 3. bearbeitete Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-
05-004978-6, S. 155–173.
Bernhard H. F. Taureck: Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen
Ikonologie der Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-29266-8, S. 320–351.
Wilhelm Blum: H
¨
ohlengleichnisse. Thema mit Variationen. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004, ISBN
3-89528-448-3.
Konrad Gaiser: Das H
¨
ohlengleichnis. In: Konrad Gaiser: Gesammelte Schriften. Academia Verlag,
Sankt Augustin 2004, ISBN 3-89665-188-9, S. 401–410.